Sonnabend, 17. November 2018, 15:00 Uhr
Der für Gustav Landauer (1870-1919) so zentrale Begriff des „Geistes“ erhält seine definitive Prägung im „Aufruf zum Sozialismus“ (1911). Äußerlich jedoch bleibt dieser Begriff zugleich ausgesprochen unterbestimmt, schillernd und geradezu konturlos. Als der befreundete Philosoph Ludwig Berndl sich über diesen Umstand beklagt, vertröstet Landauer ihn auf ein „philosophisches Buch“, das seine Ausführungen nachträglich fundieren und auch diesen Mangel beheben würde. Dieses Buch wurde nie geschrieben.
In die Phase seines „Rückzugs“ aus der anarchistischen Bewegung (1900-1906) fällt Landauers Bekanntschaft mit dem Philosophen Constantin Brunner (1862-1937). Die Beziehung beginnt im Herbst 1903 und ist sofort sehr intensiv. Brunner arbeitet an seiner „Lehre von den Geistigen und vom Volke“, als er auf Landauer aufmerksam wird und ihn zu sich einlädt. Landauer liest das Manuskript der „Lehre“ und ist fasziniert. Nicht lange und er wird die Herausgabe des auf drei Bände hin angelegten Werkes betreuen. Darin entwirft Brunner – vermeintlich im Anschluss an Baruch de Spinoza (1632-1677) – einerseits eine „Fakultätenlehre“ des Denkens (praktischer Verstand, Geist und Analogon des Geistes, d.i. Aberglaube), andererseits eine entsprechende Lehre von zweierlei „Menschentypen“, von den Geistigen und vom Volk.
In Auseinandersetzung mit dem Brunner’schen Werk kommt es zur entscheidenden Vertiefung von Landauers Spinoza-Rezeption. Wo Brunner über Spinoza hinausgeht, teilt Landauer ihm schließlich mit, gehe er fehl. Bereits seit 1907 war in Landauers Texten eine kritische Gegenbesetzung des Brunner’schen Vokabulars aktiv. Der „Aufruf zum Sozialismus“ schließt nahtlos daran an. An die Stelle von Brunners Staatsdenken tritt ein grenzenloser Föderalismus, der vom Ganzen her ins Ganze denkt, an die Stelle der Trennung von „Geistigen“ und „Volk“ ein gemeinsamer „Geist“, der auch affektive Anteile umfasst. Dabei hat Landauer jedes seiner theoretischen Manöver in der auch von Brunner akzeptierten Philosophie Spinozas verankert. Landauers anarchistische Antipolitik wurde nun vollends zu einem praktisch prozessierenden Spinozismus.
In unserem Workshop soll es jedoch nicht darum gehen, diese These durch philologische Details zu erhärten. Stattdessen werden wir uns in einem close reading kurzer exemplarischer Passagen aus Landauers Texten gemeinsam an einer Deutung versuchen. Anschließend werde ich diese Passagen jeweils auf die Philosophie Spinozas beziehen, die sie als heimlichen Index mitführen und unausgesprochen zitieren.
Eine ganze Reihe traditioneller Gegensätze – von Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit, Zeit und Ewigkeit, Einheit und Vielheit, Affirmation und Negation –, welche die westliche Kulturgeschichte durchziehen und mit ihren Aporien heimsuchen, werden in der Philosophie Spinozas durch eine innovative Neuausrichtung der grundlegendsten philosophischen Begriffe von vornherein unterlaufen. Die Konsequenzen dieser philosophischen Revolution hat Gustav Landauer in seiner Praxis überall gezogen.
Keine Lektüre und kein Vorwissen nötig.
Ort: HWP, Hamburg, Von Melle Park 9