Ne znam - Rezension: "Berthold Cahn, ein Leben für den Anarchismus"

Ne znam - Zeitschrift für Anarchismusforschung
Nummer 8 | Sommer 2019

Gustav Landauer Denkmalinitiative (Berlin): Berthold Cahn, ein Leben für den Anarchismus. Berlin: Gustav Landauer Denkmalinitiative, 2018. 42 Seiten.

In ihrer jüngsten Broschüre beschäftigt sich die Gustav Landauer Denkmalinitiative mit Berthold Cahn. Der 1871 geborene, ungelernte Arbeiter war bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin als Autor und Redner für die anarchistische Bewegung in Erscheinung getreten. Während der Zwanzigerjahre wurde er zu einem der wichtigsten libertären Vortragsreisenden der Weimarer Republik.
Zwar angelegt als Biografie, beschränkt sich die Broschüre nicht darauf, persönliche Lebensdaten Cahns aneinander zureihen. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass es anhand der vorliegenden Quellen schwierig ist entsprechen des nachzuzeichnen, denn vorrangig muss sich mit Veranstaltungsankündigungen aus einschlägigen Zeitungen sowie einigen Protokollen der Geheimpolizei begnügt werden. Doch gerade dies führt dazu, dass die relativ spärlichen biografischen Informationen in ein größeres Ganzes der anarchistischen Bewegung eingeordnet werden können. So gelingt es immer wieder sowohl die allgemeinen politischen Verhältnisse als auch die Situation der libertären Bewegung in Beziehung zu Cahns Biografie zu stellen. Einige Problemlagen scheinen in der Geschichte in ähnlicher Art immer wieder aufzutreten, wie etwa die Diskrepanz zwischen der eher ungebildeten Arbeiter Schicht und den linken Intellektuellen. Cahn selbst war einer derjenigen, die zunächst noch sehr kritisch zum Anarchismus standen. Doch die Bewegung begegnete seinem Dissens offenbar aufgeschlossen. Was genau ihn schließlich überzeugte, kann die Broschüre nicht nachzeichnen, auffällig ist jedoch, dass Cahn zahlreiche Veranstaltungen unterschiedlicher Spektren besuchte, sich dort zunächst noch skeptisch äußerte und dann zum glühenden Redner für den Anarchismus wurde. Der interessierte Autodidakt hatte sich ein Bild der politischen Lager gemacht und letztendlich entschieden.
Zu den weiteren Themen der Epoche, die sich auch in Cahns Biografie wiederfinden, gehören der Kampf für die Gleichstellung der Homosexualität, der Einsatz gegen Antisemitismus oder auch die ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschland, Anarchosyndikalisten). Weiterhin erfahren wir von den Gründen für die Schwierigkeiten einer anarchistischen Beteiligung an der Revolution von 1918/19 sowie von den wiederkehrenden Konfrontationen mit autoritären Bewegungen und Zentralgewerkschaften.
Diese Verknüpfungen größerer Zusammenhänge mit dem Leben des umtriebigen Protagonisten machen die Broschüre zur kurzweiligen und erkenntnisreichen Lektüre. Ihre besondere Würzung erhält sie durch Details, wie der Idee eines anonymen Kritikkastens bei Vorträgen oder der Wiedergabe von Rudolf Rockers und Cahns scharfer, vorausschauender Kritik am Antisemitismus. Die genauen Umstände der Ermordung Cahns durch die Nazis bleiben schließlich leider ungeklärt. Bezüglich der Todesumstände bleibt insbesondere die Frage offen, wieso sich die Aussage des Zeitzeugen Fritz Scherer und die Quellenlage widersprechen und warum sich seitens der Autor_innen schließlich für die Quellenaussage entschieden wurde.
In jedem Fall tut der Text jedoch gut daran, auf jede Art von Fazit oder Zusammenfassung zu verzichten. Dieser massive Bruch in der Lebensgeschichte trägt dazu bei, dass der Schrecken des Nationalsozialismus durch den Text nachhallt.
Drei Seiten Anmerkungen mit Quellenangaben weisen auf die intensive Recherchearbeit hin, die der Veröffentlichung der Broschüre vorausging. Dieser Anhang geht über das übliche Maß vergleichbarer Werke hinaus und entspricht damit beinahe wissenschaftlichen Standards. Leider werden jedoch an einigen Stellen historische Publikationen auf die gleiche Weise zitiert, wie im Handel oder in Bibliotheken auffindbare Sekundärliteratur. Tatsächlich sind sie jedoch meist weniger zugänglich und finden sich in Archiven oder privaten Sammlungen. Weiterhin mangelt es an einem Quellen- und Literaturverzeichnis durch das die Leserschaft einen Überblick über die hinzugezogenen Schriften bekommen könnte. Beide Punkte erschweren den Weg zu eigenen Recherchen.
All dies mag einem für diese Textsorte typischen Dilemma geschuldet sein: An wen richten die Autorjnnen ihr Werk? Die Adressat_innen setzen sich aus Mitgliedern der anarchistischen Bewegung und an ihr Interessierten zusammen. Dieserbegrenzte Kreis wird durch die historische Thematik zusätzlich verkleinert. Eine große Zahl der Leserschaft dürfte sich bereits mit ähnlichen Themen auseinandergesetzt haben. Daher liegt es nahe, dass an einigen Stellen Fakten vorausgesetzt und nicht näher erläutert werden. Doch der Text verschließt sich dadurch unnötig einem potentiell größeren Publikum. Kurze Erläuterungen, wie bspw. eine Erklärung der politischen Ausrichtung der anarchistisch-syndikalistischen Zeitung Weckruf oder ein Hinweis auf den Inhalt des §175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, würden den Text zugänglicher gestalten. Ähnliches gilt für die Vielzahl an Abkürzungen der auftretenden Organisationen. Zwar werden sie bei ihrer Erstnennung alle ausgeschrieben, doch fehlt ein Abkürzungsverzeichnis, was denjenigen, denen die Thematik noch vergleichsweise neu ist, ein störendes Hin- und Herblättern beschert.
Dass die Gustav Landauer Denkmalinitiative grundsätzlich ein Interesse an einer breiteren Streuung ihrer Inhalte hat, ist offensichtlich. Dies zeigt sich am rundherum gelungenen, seriösen und doch ansprechenden Design der Broschüre. Einleitend wird ein Gedicht von Cahn abgedruckt, das in lyrischer Weise den Kerngedanken des Autors zeigt, dass die Arbeiterklasse eine freie Gesellschaft ohne Gewalt aufbauen müsse. Das übersichtliche Inhaltsverzeichnis führt in den chronologischen Aufbau des Textes ein, dessen Abschnitte sinnhaft mit passenden Themenschwerpunkten betitelt sind.
Auflockerung bringt weiterhin die für eine Broschüre ungewöhnlich reiche Bebilderung. Fotografien und Ausschnitte aus historischen Publikationen bieten Einblicke in die Zeit. Kleine Bildunterschriften runden den Text durch dankbare Zusatzinformationen ab.
„Berthold Cahn, ein Leben für den Anarchismus“ bildet somit einen absolut lesenswerten Beitrag zur Geschichte des Anarchismus. Der Gustav Landauer Denkmalinitiative bleibt zu wünschen, dass sie ihre gute Arbeit fortsetzt und ihre zur Zeit nur auf Bestellung bei ihnen verfügbaren Broschüren bald auch im Buchhandel frei erhältlich sind.
Robin Tunger (Bonn)